Krankheit als Kündigungsgrund:
Vom Umgang mit langzeiterkrankten Arbeitnehmern
Der langzeiterkrankte Arbeitnehmer fristete in der Vergangenheit ein Schattendasein in den Betrieben. Er wurde in den Personalkosten in der Regel nicht wahrgenommen, es sei denn, man hatte im Vertrag eine Sonderleistung vereinbart – individuell oder tariflich –, die bei nicht erbrachter Arbeitsleistung Ansprüche begründete. Erst die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 20.01.2009 befreite ihn aus diesem Schattendasein.
Der Europäische Gerichtshof entschied, dass die jährlich angefallenen Urlaubsansprüche, die ggf. über Jahre hin angesammelt werden, mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu vergüten sind. Danach waren die Betriebe gezwungen zu handeln und nach Durchsicht der Personalunterlagen kommt es häufig zu Kündigungen aus krankheitsbedingten Gründen, um die wirtschaftlichen Folgen zu vermeiden.
Seit dem 09.08.2011 ist zumindest durch das Bundesarbeitsgericht klargestellt, dass alle Ausschlussfristen auf die Abgeltungsansprüche anzuwenden sind, was aber bei einem juristisch beratenen Arbeitnehmer nichts am Ergebnis ändert. In der Regel werden die Ansprüche zeitgerecht angemeldet. Noch nicht entschieden ist die Vorlage bei dem Europäischen Gerichtshof zu der Frage, ob die Abgeltungsansprüche der Langzeitkranken zeitlich limitiert sein sollen, ggf. maximal auf 18 Monate. Hier wird man abwarten müssen.
Will man sich also von einem Langzeiterkrankten trennen, müssen folgende Kriterien geprüft werden:
- Erste Stufe:
Die negative Zukunftsprognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit. -
Zweite Stufe:
Die erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen. -
Dritte Stufe:
Die Interessenabwägung, wonach die betriebliche Beeinträchtigung zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führt. -
Vierte Stufe:
Die Suche nach einem leidensgerechten Arbeitsplatz, insbesondere Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements.
I. Negative Zukunftsprognose
Um eine negative Zukunftsprognose zu stellen, muss zunächst der Ist-Zustand definiert werden. D. h., es muss eine lang anhaltende Krankheit vorliegen, wobei das Gesetz ebenso wenig eine Aussage trifft wie die Rechtsprechung. In der Regel darf man allerdings von einer Langzeiterkrankung ausgehen, wenn ein Arbeitnehmer länger als 1,5 bis 2 Jahre im Betrieb fehlt. Die negative Zukunftsprognose liegt vor, wenn bei einer Langzeiterkrankung die Wiedergenesung in absehbarer Zeit nicht sichergestellt ist. Je klarer die gesundheitliche Beeinträchtigung auf Dauer ersichtlich ist, je früher kann man von einer Langzeiterkrankung ausgehen.Um seinem Sachvortrag im Prozess zu genügen, muss der Arbeitgeber versuchen, so viel wie möglich über die Gesundheitssituation des Arbeitnehmers herauszufinden, was angesichts der Schweigepflicht der Ärzte zwangsläufig mit Schwierigkeiten verbunden ist. Insofern muss versucht werden, den Arbeitnehmer zu befragen und je weniger die Auskunft ergibt, umso geringere Anforderungen sind an den Sachvortrag des Arbeitgebers zu stellen. Hier muss es genügen, dass der Arbeitgeber einen bestimmten Verlauf darstellt. Der Arbeitnehmer muss sodann aus seiner Sicht unter Darlegung der Fakten erläutern, warum mit seiner dauerhaften Genesung gerechnet werden kann.
II. Betriebliche Beeinträchtigung
Für die Darstellung der erheblichen betrieblichen Beeinträchtigung gibt es zwei Anhaltspunkte:- Betriebsablaufstörungen
- wirtschaftliche Beeinträchtigungen
Zu den betrieblichen Beeinträchtigungen zählen Störungen des technischen oder organisatorischen Betriebsablaufes, wie Stillstand von Maschinen, Überlastung der Arbeitskollegen, Rückgang im Dienstleistungsgewerbe etc.
Diese erheblichen Störungen dürfen sich nicht durch weniger einschneidende Mittel, wie die Umsetzung auf einen anderen verfügbaren und leidensgerechten Arbeitsplatz oder Überbrückungsmaßnahmen, wie die Einstellung einer Ersatzkraft, ausräumen lassen.
Zu den erheblichen wirtschaftlichen Beeinträchtigungen der Arbeitgeberinteressen gehören erhebliche Lohnfortzahlungskosten für einen Zeitraum von ca. 6 Wochen über mehrere Jahre, Kosten für Ersatzkräfte, Überstundenzuschläge oder Produktionsausfallkosten.
Die wirtschaftlichen Beeinträchtigungen wegen anfallender Lohnfortzahlungskosten sind deshalb wichtig, weil diese für sich allein bereits eine betriebliche Beeinträchtigung darstellen können, ohne dass Betriebsablaufstörungen dargestellt werden müssen.
Ob in Zukunft die zu erwartenden Urlaubsabgeltungsansprüche eine solche Beeinträchtigung auslösen, ist noch nicht höchstrichterlich entschieden.
In keinem Fall reicht es aus, eine abstrakte Gefährdung darzustellen. Der Vortrag muss konkret sein.
Bei einem Langzeiterkrankten muss auch überprüft werden, ob durch die befristete Einstellung eines Mitarbeiters die Ausfallzeit überbrückt werden kann. Die 24 Monate, auf die ein Arbeitsverhältnis nach den heutigen gesetzlichen Grundlagen befristet werden kann, sind im Rahmen der Rechtsprechung ein wichtiger Anhaltspunkt geworden.
Besteht eine so genannte krankheitsbedingte dauerhafte Leistungsunfähigkeit, ist in aller Regel ohne Weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung auszugehen. Die Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit steht einer krankheitsbedingten dauernden Leistungsunfähigkeit gleich, wenn in den nächsten 24 Monaten mit einer positiven Prognose nicht gerechnet werden kann. Hier ist durch den Arbeitnehmer darzulegen und ggf. zu beweisen, dass mit einer Genesung in absehbarer Zeit zu rechnen ist (vergl. BAG NJW 2000, 893).
III. Interessenabwägung
Die betrieblichen Beeinträchtigungen müssen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen. Es hat eine Interessenabwägung mit den persönlichen Belangen des Arbeitnehmers stattzufinden.Der Arbeitgeber hat Gesichtspunkte, wie die erhebliche Beschäftigungsdauer, die schlechten Arbeitsmarktchancen oder den Umstand, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf der beruflichen Tätigkeit beruhen, zu berücksichtigen.
Diese Kriterien sind den Interessen des geordneten Betriebsablaufes gegenüberzustellen und abzuwägen.
IV. Leidensgerechter Arbeitsplatz und betriebliches Eingliederungsmanagement
Sowohl im Rahmen der Betriebsbeeinträchtigung als auch in der Interessenabwägung (Ziffer 2. und 3.) ist ergänzend zu prüfen, ob ein so genannter leidensgerechter Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Der Arbeitgeber muss daher überprüfen, ob ein freier Arbeitsplatz vorhanden ist, an dem der Arbeitnehmer seine Beschäftigung ohne die Beeinträchtigung ausführen kann. Hierbei ist es wichtig, dass keine Verpflichtung besteht, einen Arbeitsplatz freizukündigen, allerdings ist von Umsetzungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Eine Besetzung mit einer höherwertigen Tätigkeit ist nicht vorgesehen, sodass sich die Prüfung des Arbeitgebers auf gleichwertige oder geringerwertige Arbeitsplätze begrenzt.In den letzten Jahren hinzugekommen ist das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM), das im Rahmen der Interessenabwägung durchzuführen ist.
Ist ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, hat der Arbeitgeber nach § 84 Abs. 2 Satz 1. SGB IX unter Beteiligung des betroffenen Arbeitnehmers und der Interessenvertretung zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Kündigt der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer aus krankheitsbedingten Gründen, ohne zuvor dieses betriebliche Eingliederungsmanagement durchgeführt zu haben, so führt dies nicht ohne Weiteres zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine personenbedingte Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen. Die gesetzliche Regelung ist aber auch nicht nur ein bloßer Programmsatz, sondern Ausprägung des das Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Führt der Arbeitgeber kein betriebliches Eingliederungsmanagement durch, kann dies Folgen für die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen der Prüfung der betrieblichen Auswirkungen von erheblichen Fehlzeiten haben. Der Arbeitgeber kann sich dann nicht mehr pauschal darauf berufen, ihm seien keine Alternativen, der Erkrankung angemessenen Einsatzmöglichkeiten bekannt (vergl. BAG 2 AZR 716/06).
Entgegen der Stellung des § 84 SGB IX im Gesetz gilt das Erfordernis des betrieblichen Eingliederungsmanagements für alle Arbeitnehmer, nicht nur für Schwerbehinderte. Erforderlich ist allerdings die Zustimmung und Mitwirkung des Arbeitnehmers. Bei einer ablehnenden Haltung sollte diese protokolliert werden und das Eingliederungsmanagement wäre abzuschließen. Eine bestimmte Verfahrensordnung ist nicht notwendig, da der Arbeitgeber sich lediglich mit ihm angetragenen Möglichkeiten einer anderweitigen Beschäftigung auseinandersetzen muss. Es reicht ein sachorientiertes Gespräch.
Das Eingliederungsmanagement hat auch in Betrieben stattzufinden, in denen es keine Interessenvertretung (z. B. Betriebsrat) gibt. In das sogenannte Integrationsteam sind in der Regel Betriebsräte, Personalräte, Schwerbehindertenvertreter, Betriebsärzte sowie Fachkräfte für Arbeitssicherheit einzubeziehen, ggf. auch Berater der Krankenkasse und des Arbeitsamts.